Gestern beim Schlittschuhfahren habe ich mich dabei ertappt zu denken, dass ich eigentlich viel schlauer sein könnte. Was man alles erreichen könnte im Leben, wenn man nur immer sein Schweinhund besiegt und aufmerksam an seinem eigenen Wissen arbeiten würde. Aber immer arbeiten – das will man doch gar nicht, oder? Man möchte ja auch mal loslassen, sich treiben lassen und den Gedanken einfach mal so Luft zum Träumen geben. Ich kenne sehr wenige Menschen, die ein ausgiebiges Bohemienleben führen könnten und gar keinen, der das tut.
Das scheint auch nicht zu unserem heutigen Alltag zu passen. Trotz der health crisis (oder Corona) macht man doch alles nur um drin zu bleiben in diesem Hamsterrad aus erfülltem Leben: Online Yogaklassen, Online Gesangsunterricht, online Sprachkurse… Hauptsache der Kalender ist schön voll.
Wenn ich also im ersten, ungefilterten Moment dachte, dass das stetige Dranbleiben und den Schweinehund besiegen das Rezept dafür ist, dass man viel schlauer wäre; so ist doch mein zweiter Einfall genau das Gegenteil: Viel mehr Bohemienleben müsste man haben, damit man von einer Gedankenwolke zur nächsten fliegen kann und wieder zurück.
(Am Rande sei kurz erwähnt: Die Idee der Digital-Boheme finde ich super spannend. )
All das Wissen, all die Bücher, all die Musik, all die Kunstfilme: Sie würden Alle viel mehr auf mich wirken können und ich hätte die Muse mich bis ins kleinste Detail an den einzelnen Themen zu erfreuen und die Gedanken weiterzuspinnen – sie zu meinen eigenen Gedanken werden lassen.
Aber hier gibt es doch einen Unterschied. Ein Unterschied, der schnell auffällt. Es ist für dieses Bohemienleben doch nicht egal, was für „Einflüsse“ man aufnimmt. Natürlich soll hier alles erlaubt sein. Ich könnte also 8 Stunden Serienmarathon machen und danach total erschöpft in einen sehr rastlosen Schlaf verfallen. Auch nach einer Stunde Serienmarathon stellt sich das Gefühl ein Bohemienleben zu führen nicht ein. Da gibt’s einfach fast gar kein Futter fürs Gehirn und teuren Wein braucht man schon gar nicht trinken, da der Genuss ausbleibt. Yogi Tee machts auch. Kurz taucht eine kleine lose Cirrus-Gedankenwolke auf, da ist sie auch schon in wieder fort.
Probiert doch mal dieses Experiment an freien Tagen aus:
Tag 1.
Den halben Tag sich mit einer Thomas Mann Lektüre beschäftigen, dann am Nachmittag lange Spazieren gehen; anschließend nach dem Abendbrot Netflix schauen. Was bleibt da übrig vor dem Einschlafen?
Tag 2.
Dann an einem anderen Tag nur Netflix-Marathon.
Tag 3.
Und dann wiederum an einem anderen Tag nur die Thomas Mann Lektüre (oder die 7.Bruckner hören, oder Iannis Xenakis Nuit).
Ein Spaziergang sei euch zwischendurch jeweils gegönnt.
Bei mir ist das so: Wenn ich mich für einen gemischten Tag entscheide, dann stellt sich das Gefühl frei zu sein so mittelmäßig ein. Ein paar Gedankenwolken gibt es, die tagelang über meinem Kopf hängen bis sie als morgendlicher Tau auf meinem Gesicht landen: Sehr erfrischend.
Der Netflix Tag wiederum ist ganz gut insbesondere, wenn man sowieso sehr erschöpft ist und zwischendurch immer wieder einschläft. Von Wolken und Morgentau keine Spur! Auch habe ich nicht das Gefühl, dass ich diesen Tag wirklich für mich genutzt hätte. Ganz im Gegenteil. Meist bereue ich, dass ich nicht ohne Gequassel aus den Lautsprecherboxen einfach nur geschlafen habe.
Die Tage wiederum an denen ich mich ausschließlich mit ausgewählten Themen, Musik, Kunst oder Literatur, aber auch Politik, Big Data oder anderen Wissenschaften beschäftige, sind kostbar. Meist auch, wenn ich gar nicht so viel tue, außer alles auf mich wirken zu lassen und auch nicht den ganzen Tag intensiv dabei bin, stellt sich ein Bohemienmood ein. Im Idealfall spreche ich noch mit jemandem aus meinem Umkreis über das Erfahrene („die Einflüsse“). Egal auf welches Medium und welchen Bereich der kostbaren Welt des Wissens meine Auswahl fällt, die Gedanken werden zu Cumuluswolken und manchmal sind sie sehr schwer zu entwirren. Aus diesem Grund wandern sie auch nicht ab, sondern entfernen sich und kommen zu einem späteren Zeitpunkt wieder.
Und jetzt zum Titelthema.
Sehr häufig wird man überall auf der Welt gefragt, was die Deutschen denn bitte schön mit der Unterteilung von U- und E-Musik wollen? In den Spielzeitheften der großen Konzerthallen in Deutschland ist die Unterscheidung auch sehr häufig kaum mehr zu sehen. Dann sollte man doch gleich der Einfachheit halber – aber auch um den müffeligen Geruch des Elitären loszuwerden – über A-Musik (allgemeine Musik) sprechen.
Ich finde den Begriff der „ernsten Musik“ auch sehr kritisch. Was man eigentlich verdeutlichen will, ist, dass der Schaffensprozess und die Rezeption bei der E-Musik markttechnisch ganz anders verläuft als bei der U-Musik. Die Unterscheidung hier ist in der Abgrenzung zum rein Kommerziellen zu finden. Ist etwas allein aus der Hand des kommerziellen Erfolgs entstanden, oder zielt der Schaffensprozess auf eine andere Weise des „Einflusses“ der Musik auf den Rezipienten ab. Tatsächlich muss man feststellen, dass manche E-Musik gleichfalls zu U-Musik gehört und umgekehrt. Die Unterstellung, dass etwas was „klassisch“ klingt E-Musik sei, gilt im Garage-Band Zeitalter nicht mehr. Wiederum gibt es Rap-Songs, die ganz klassische episch-vertonte Kunstwerke sind und das Potenzial haben Grenzen zu durchbrechen, da sie was völlig Neues machen. Das ist sicher der Grund, warum Viele diese Trennung abgeschafft sehen wollen.
Nur weil aber aus zwei Stoffen ein homogenes Gemisch entsteht, heißt nicht, dass wir die Stoffe nicht benennen können. Die Erkenntnis, dass bei Reproduzierbarkeit von Musiken der Grad der Kommerzialität die Bereiche der U- und E-Musik erkenntlich macht, finde ich richtig, da sie mit anderen Zielgruppen, anderer Rezeption und auch mit den Begriffen Forschungscharakter und Innovationskraft abzugrenzen sind. Die Vergütung der Schaffenden sollte daher voneinander getrennt werden. Es ist ein Naturgesetz, dass das Rad nachzubauen einfacher ist, als das Rad zu erfinden. Des Weiteren sind Folgegedanken des Rezipienten, die wie Cumuluswolken emporsteigen und dem Gehirn Futter geben sicherlich kostbarer als die Cirruswolken, die sich flüchtig zerstreuen und nicht zur ersehnten Frische führen.
Es sei dahingestellt, ob die Begrifflichkeiten U- und E-Musik noch zeitgemäß sind und ob die Rahmenkriterien für die Einordnung an den heutigen Musikmarkt angepasst werden sollten. Hier sehe ich Handlungsbedarf.
Bis dahin aber versuche ich mich mehr als Digitale-Boehmienne. Warum die Klassikszene davon mehr haben sollte, das erkläre ich mal in einem anderen Beitrag. Bis dahin sei auf folgende Lektüre verwiesen:
Buchempfehlung „Wir nennen es Arbeit.“
Ich wünsche euch eine hoffnungsvolle, kreative Woche!